Antonio

(Bild:Die Basilika Sagrada Familia in Barcelona von BiggY)
(Mein Auftrag: eine Kurzgeschichte über einen Dachdecker verfassen)


Bestatten?Antonio

Der Tag, an dem ich sterben kann, beginnt mit einem listigen Sonnenaufgang, gerade so, als backe das Christkind bereits Stollen für meine Beerdigung.
Ich stehe auf meinem winzigen Balkon, ein geschwungenes Gusseisengitter schützt mich vor der anderen Welt. Auf gesprungenen Bodenfliesen vertrocknen letzte Blätter der beiden Topfpflanzen. Ich blicke wehmütig hinüber zum Dach der Basilika Sagrada Familia, sauge den Rauch einer Gauloise in die Lunge, als hinge mein Leben davon ab. Ich nehme einen Schluck meines vorletzten Espressos. Den bitteren Geschmack habe ich mit drei Brocken Würfelzucker überdeckt.

Über Zypressen lacht die aufsteigende Sonne heute grellgelb, nicht blutrot, wie während der letzten dreizehn Monate. Wahrscheinlich kugelt sie sich über den Anblick meines runden Vollmondgesichts, meines Dreifachkinns und dem Fässchen, welches mein ehemaliges Eightpack verbirgt. Ich, Antoine, 39, Ex-Leistungssportler, Ex-Dachdecker, Ex-Vater, habe mich in gut einem Jahr verdoppelt.

Ich schiebe den winzigen Kippenrest in eine Flasche mit dunkelbrauner Brühe. Trete zurück. In meine Wohnung. Schenke mir den zweiten Espresso ein, den letzten, endlich!, ich bin erleichtert und froh; das erste Mal seit langem, dies wird ein guter Tag. Ich setze mich an den Küchentisch, erwidere den Blick meiner verstaubten Sporttasche, die aus der Ecke zu mir hinüber stiert, seit Eva-Mariah nicht mehr da ist.

„Ich sterbe nicht. Ich reise zu Mama“, hat sie mich nach ihrer zweiten Chemo trösten wollen. Mir den Autoschlüssel gereicht, den ich ihr erst letztes Jahr geschenkt hatte.
„Ich fahre mit dir“, hatte ich geräuspert. 
Daraufhin drehte Eva-Mariah ihren haarlosen Kopf von mir weg, ich ertrug es kaum. „Wenn du das tust, spreche ich kein Wort mehr mit dir. Nie wieder.“
„Das tust du sowieso nicht“, dachte ich, aber meine geliebte Tochter hatte, wie immer, meine Gedankenblase lesen können. So wie ihre Mutter, mit der ich nur vier Jahre große Liebe hatte leben dürfen, bevor sie unter der Geburt verblutet war.
Dann hatte Eva-Mariah nach meinen eigenen, sorgfältig gehüteten Waffen gegraben und sie gegen mich gerichtet: 
Immer, wenn sie als junges Mädchen langweilige Vokabeln lernen sollte, hatte ich zu Beginn mit hohem Einsatz gepokert: »Nur zwei Stunden lang.«
Natürlich brauste sie auf, und ich hatte mich schnell zu einer Stunde, langsamer zu zwanzig Minuten herab handeln lassen. Ich hatte angenommen, sie hätte meine Absicht nicht erkannt. Ich wäre stets mit zehn Minuten zufrieden gewesen.
Eva-Mariah schlug vor: „Die normale Trauerzeit dauert 12 Monate. Du warst nie normal. Du warst mit einundzwanzig allein erziehender Vater. Hast deine Ausbildung zu Ende gemacht. Durftest als künstlerischer Dachdecker  an Gaudis Weiterbau der von dir geliebten Kathedrale mitarbeiten. Musstest dabei besonders auf deine Finger achten, da du nebenbei als Handmodel gearbeitet hast - und das als Handwerker! Alles, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Du musstest mich stets mitschleppen, und Tante Nathalie als Kinderfrau. Nichts war bei dir normal. Also gönn dir, ganz unnormal, zwei Jahre Trauerzeit und warte ab, wie sich dein Leben entwickelt.“
„Niemals. Zwei Jahre!“
„Zwanzig Monate.“
„Nein.“
„Fünfzehn.“
»Höchstens dreizehn.«
»Na gut. Dreizehn.« Dabei hatte sie - triumphierend ?- vor sich hin gelächelt
„Hol nach, was du nie gemacht hast, Papa.«

Mir ist unterbewusst bewusst, dass sie damit etwas anderes gemeint hatte als rauchen, fressen, trinken. Am helllichten Tag schlafen, in der Nacht durch die Straßen Barcelonas zu streifen. Arbeiten und Sport einzustellen. Nathalie, der Zwillingsschwester meiner verstorbenen Frau, aus dem Weg zu stürmen. 

Heute sind dreizehn Monate um. Heute ist es so weit. Heute endet der Deal, und ich darf endlich sterben. 
Es schellt. Der Postbote kommt. Er wird mein Kräuterpaket aus Holland bringen, welches ich vor zwölf Monaten und neunundzwanzig Tagen bestellt hatte. Sie hatten mir die taggenaue Lieferung versprochen. Es sollte keinen Tag früher eintreffen, ich traute mir nicht. Doch das Paket wäre klein, es würde in den Briefkasten passen? 

Dieses Päckchen ist rechteckig, größer als ein Schuhkarton. »Unnötiger Verpackungsmüll,« ich baue es vor mir auf. Das Telefon schellt, ich hatte keine Lust, es abzumelden. Das Handy liegt irgendwo in der Schublade, ich habe es lange nicht mehr geladen. Alles egal, jetzt ist mein Todesretter da. Es klingelt erneut unten an der Tür, ich ignoriere, dann klopft es, jemand ruft laut, verdammt, ich ignoriere es, hallo?!, merkst du Klingelmann oder -frau das nicht?, hau ab, lass mich in Ruhe.
Meine Hände öffnen das Paket. Sonnengelbes Seidenpapier lacht mir entgegen. Ich hebe es heraus, sehe darunter zwei Bücher.
»Wieder Nichtraucher«. 
»Sein Gesamtwerk - Gaudi«. 
Fitnessschuhe.
Ein Paket Espresso. Lavazza! Meine Lieblingssorte.
Ein Brief. 
„Wenn du mich liebst, so wie ich dich, gönnst du mir das beste Serien-Programm, dass Mama und ich von hier oben verfolgen können. Sie ist so stolz, was du aus mir gemacht hast. Lass uns täglich Antoines neues Leben genießen. Langweile uns nicht. Wir wollen das Meer sehen. Die Berge. Ach ja, und ich soll dir ausrichten, sie hat genug Leiden bei dir sehen müssen. Sie möchte nicht auch noch ihre Schwester Nathalie leidend sehen, weil dir etwas passiert. Sie liebt dich. War immer für uns da. Nimm sie mit. Und dann deck das Kathedralen-Dach zu Ende. So viele Menschen warten darauf.“

Ich schaue hinaus, ein Sonnenstrahl juckt in meinem Augenwinkel, es juckt in meinen Beinen, und ein winziges bisschen juckt es auch in meinen Fingern. 

Herzlichst, 
BiggY