Kurzgeschichte zum Sonntag: Nur ein kleines Nüsschen

(Piqs/ErichWerner)

"Oma, das geht nicht!"
"Bitte, bitte."
"Und wenn dir etwas passiert? Ich will nicht Schuld sein, wenn du stirbst."
"Ich sterbe nicht daran. Und wenn, dann wenigstens glücklich."
Max strich stöhnend eine gegelte Pony-Strähne zurück, die über seine tiefbraunen Augen gefallen war. Dann legte er mir die Leinentasche meiner Tochter mit den neuen Körperpflegemitteln auf die Nachtkonsole. 

"Mama bringt mich um, wenn ich dir Erdnüsse besorge." Laut meiner renitenten Tochter litt ich unter einer Nussallergie. 
"Deine Mutter ist Homöopathin, wenn sie uns erwischt sagen wir, dass ich mich lediglich in homöopathischer Dosis gewöhnen will."
Wir lachten. Homöopathie, so ein Schwachsinn. Das war wie ein Tropfen Medizin in den Bodensee geschüttet, umgerührt, und dann ein paar Tröpflein eingenommen. 

Gisela glaubte an diese Wirkung. Sie hatte die Naturheilpraxis ihres Vaters übernommen, der genau so ein verbohrter Korinthenbäcker war wie sie. Von ihm hatte ich mich scheiden lassen können, aber sie wurde ich einfach nicht los. 

Dabei hatte ich mich wahrlich angestrengt: 
Strippoker mit den Nachbarn gespielt wenn ich wußte, sie kommt mich besuchen. Eine Riesensumme dem Freudenhaus unseres Ortes gespendet; sogar an deren Tag der offenen Tür teilgenommen und selbst gebackene Cupcakes verkauft. Eine Single-Reise nach Papua Neuguinea gebucht, mir rote Pumps gekauft. 

Nach einem winzigen Schlaganfällchen hatte sie entschieden:
"Du ziehst besser zu mir. Da kann ich auf dich... für dich sorgen."
"Ich gehe in ein Altenstift."
"Um Himmels Willen!" 
"Der will das auch."
"Mutter! Werd erwachsen. Und zieh zu mir."
"Du tust, als würdest du mich in ein Haifischbecken werfen."
"So werden die Leute unseres Dörfchens und meine Patienten urteilen, wenn ich meine einzige Mutter ins Heim stecke!"

Als wenn sie mehrere hätte. Ihre Schwiegermutter hatte es richtig gemacht und war schön rechtzeitig weg gestorben.
"Es ist ok für mich," hatte ich ihr Absolution erteilt.
"Ok? So ein Altenheim ist nichts, keiner hat genügend Zeit, sich um dich zu kümmern."
Genau das war es, was ich anstrebte, aber sie hatte mir meine letzte Hoffnung nehmen wollen! 

Nicht mit mir, einmal musste Schluss sein, und sie musste lernen, ihre Mutter loszulassen. Ich hatte mich durchgesetzt indem ich drohte, mich für den diesjährigen Altfrauen-Kalender nackt fotografieren zu lassen, wenn sie mich nicht übersiedeln ließ.

Seit fast zwei Jahren genoss ich im Stift des Nachbarortes also Schöner Wohnen. Schlabberte eine halbe Flasche Sekt zum Frühstück, welchen ich mir vom Pfleger aufs Zimmer schmuggeln ließ. Danach rauchte ich ein oder zwei Gauloise, spuckte Tabakkrümmel durch den Raum. An guten Tagen, wenn ich meine Prothese ordentlich befestigt hatte, traf ich bis zum Spiegel. Die eitle, brillenlose Putzhilfe suchte noch immer die Lösung, warum in meinem Zimmer mehr "Fliegendreck" zu finden war, als in den anderen.

Statt Kaffeeklatsch mit trüben Tassen spielte ich tagsüber mit den glücklich Kinderlosen World of Warcraft. Dazu tranken wir zwei Likörchen, dann erst wieder ein kleines Schnäppschen nach dem Abendbrot.

Wenn alle schliefen, schlich Shisha-Richard sich in mein Zimmer. Shisha-Richard aus Berlin war knackige neunundsiebzig und gut beieinander - solange er seine Herzmedikamente erst nach seinem Besuch bei mir einnahm.

Mein Enkel Max, ein fröhlicher Philosophie-Troll, besuchte mich regelmäßig. Besorgte mir manches, nur bei den Nüsschen machte er schlapp. 
"Oma, das Kind Marin Sutters ist vorletztes Jahr an einer Erdnuss gestorben."
"Weil es sich verschluckt hat."
"Und wenn dir das passiert? 
"Niemals. Mein Schlund ist weit wie bei eine Boa Constrictor."
"Schau, ich habe dir andere Leckereien mitgebracht."
"Aber keine Nüsschen."
"Mama will morgen vorbei kommen."
"Keine Drohung. Sag ihr, ich bin krank."
"Dann wird sie noch heute Abend kommen."
"Sag ihr, ich bin tot."
Max lachte, knallte einen Kuss auf meine Wange und winkte mir zum Abschied.

Am nächsten Nachmittag wehte ein Sturm ins Zimmer. Gisela die Aufgebrachte:
"Mir reicht es! Von -zig Seiten werde ich inzwischen als die schlechteste Tochter von allen verschrieen. Die Leute tuscheln, weil ich dich ins "Heim gesteckt" habe. Die Heimleitung erzählt, dass das Personal für dich einkaufen gehen muss. Max habe ich gestern entlockt, dass du noch immer deinen blöden Nüsschen hinterher trauerst. Hier hast du!"
Sie knallte eine Plastiktüte auf mein Bett, stapfte zur Tür hinaus, die sie vor Aufregung vergaß zuzuknallen.

Ich wühlte in der Tüte, als enthielte sie Diamanten, fand einen Berg an Schätzen: Sekt, Obstler, geröstete Erdnüsse, Erdnussschokolade, Erdnüsse in Teigmantel. Ich schlug mir die Hände vor den Mund:" Jepp, geht doch!" 

Dann sah ich einen Brief. Der Umschlag schwarz umrandet. Darin eine Karte mit Bild, Maria trägt das Kind im Arm.
"In tiefer Trauer ... Abschied von meiner geliebten Mutter...stets im Herzen...unvergessen..."

Dieses verflixte Miststück!
Versaute mir alles.
Ich schluckte so hart, dass es in der Kehle schmerzte.

Wütend warf ich alles in den Nachtkasten. Hätte fast geheult, wußte nicht ob vor Frust oder Appetit. Dann ging ich ins Bad. Duschte mich, wusch meine Haare mit den neuen Pflegeprodukten, die Max mir gestern von Gisela mitgebracht hatte. 

Die brillenlose Putzhilfe fand mich rotgefleckt in der Ecke der Dusche liegend, nach Atem ringend, direkt neben dem Duschgel und Shampoo.

Später, im Krankenzimmer, erklärte  der Stationsarzt: "Sie haben den Hinweis nicht beachtet: enthält Spuren von Hasel- und Cocosnuss? Sie hatten eine anaphylaktische, sprich allergische Reaktion auf die Inhaltsstoffe.

Das hatte ausgereicht, mich umzuhauen?! Hatte Gisela also doch recht? Aber wieso hatte sie von meiner Allergie gewusst, ich aber nicht? 

Sie kam so schnell herbeigeeilt, wie es ging als sie hörte, ich läge auf der Krankenstation. Nach langem Prokeln meinerseits gestand sie unter Tränen:
"Ich habe dir homöopathische Medikamente herstellen lassen. Die werden dir jeden Morgen verabreicht. Sie sorgen dafür, dass du fit bleibst, agil, dein Gedächtnis aktiv. Damit du lange Lebensfreude genießen kannst."
Sie heulte, schluchzte, und fuhr sich mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht, das einen schuldbewussten Ausdruck angenommen hatte."Aber leider hast diese allergische Reaktion auf Haselnüsse entwickelt."

Ich entschied, ihre Eigenmächtigkeit großmütig zu vergeben. Was war schon der Verzicht auf ein paar Nüsschen, gegen den Verzicht auf Zigaretten, Alkohol und Shisha-Richard? Man konnte im Leben nicht alles haben. 
Oder?




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