Frau Engel für Charlie

Eine kleine Vor-Weihnachtsgeschichte:

Ich bin nicht esoterisch veranlagt. Und doch suche ich einen Engel. Einen rettenden, sozusagen. Einen Vor-Weihnachtsengel, der sein Werk bereits Ende November vollendet hat. Aber ich erzähle besser von Anfang an.

Oma erkrankte an Krebs. Ihr einziger Enkel Charlie, war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Er hatte eine enge Beziehung zu seiner „Vorlese—Oma“,  kuschelte sich auf ihren Schoß und hörte ihrer leisen Stimme zu, wenn sie ihm eine Geschichte erzählte. Wenn sie müde im Sessel lehnte, sang er ihr leise ins Ohr. 
Als er vier Jahre alt war, hockte er sich neben ihre Couch und malte Bilder für sie, wenn ihr übel war und sie sich „mal kurz“ hinlegte. 
Im jungen Alter von fünf hockte er sich auf ihre Bettkante, wenn sie im Bett blieb, und las ihr aus seinem Bilderbuch vor, welches er verkehrt herum hielt. 
Mit sechs streichelte er ihre Arme, wenn sie, müde von Chemotherapie und Medikamenten, im Halbschlaf lag. 

Dann kam sie ins Krankenhaus, wurde komatös, Tag und Nacht war jemand von der Familie bei ihr.
„Sie kann einfach nicht loslassen,“ erzählte ich eines abends mein Mann, und weinte. 
Am nächsten Nachmittag gab Charlie mir einen kleinen Stoffdrachen. „Den habe ich heute im Kindergarten gebastelt. Für Oma. Damit sie loslassen und in den Himmel fliegen kann. Nimm ihn mit und stelle ihn auf ihren Nachttisch.“

Am übernächsten Tag starb meine Mutter. Ich räumte die Sachen aus dem Krankenzimmer erst einmal bei uns ein. Ich trauerte und weinte. Charlie wunderte sich. Er meinte, alle hätten doch nun, was sie wollten. Warum also war unser einst fröhliches Schwedenhaus ein graues Trauerhaus geworden?

Eine Woche später, am 1. Advent, geschah es. Am Nachmittag zündeten wir auf dem Kaffeetisch die erste Kerze an.  
„Und die Geschichte? Wer liest jetzt die Advent-Geschichte vor?“ Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass Oma nicht wiederkommen würde. Er war untröstlich, weder von seinem Papa noch von mir wollte er die Erzählung vorgelesen bekommen. Es war bereits stockdunkel, da kam mir eine Idee. Ich öffnete meine Schreibtischschublade, fischte den von Charlie gebastelten Drachen heraus und ging in sein Zimmer. „Möchtest du ihn wiederhaben? Kann er dich trösten? Oma hatte sich so darüber gefreut.“

Charlie nahm das Stofftierchen in den Arm, schniefte ein paar Mal in die schiefen Rückenzacken und richtete sich auf. „Nein, er war für Oma. Aber weißt du, was wir machen? Wir schreiben ihr einen Brief, stecken ihn in diesen kleinen Bastkorb. Den Drachen auch. Dann hängen wir das an diesem Luftballon, den ich auf dem Kindergartenfest bekommen habe und schicken Oma das  in den Himmel. Und fragen, ob es ihr dort oben gut geht.“

Fünf Tage später holt ich ein Kuvert aus dem Kasten. Es war an Charlie adressiert. Als er mittags heimkam, kuschelte ich mich mit ihm in die Couchecke und öffnete den Brief. Heraus kam ein gelber Bogen, und ein Stoffstück von dem Drachen, der mit im Korb gesessen hatte. Ich las ihm diesen Brief vor, während er das Stoffstück an seinen Wange presste:

„Mein lieber Charlie, ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Auch, dass du mir den Drachen geschickt hast. Damit wir beide etwas davon haben, sende ich dir ein kleines Stückchen zurück. Mir geht es gut hier oben, und ich habe endlich keine Schmerzen mehr. Wann immer ich wach bin hocke ich mich auf eine Wolke, und schaue zu dir herab. Daran wird sich auch nichts ändern, ich werde das tun, so lange du lebst. Ich wünsche mir so sehr, dass du Neugier auf das Leben und Lernen hast. Dass du dich so oft wie möglich freust, und so wenig wie möglich weinen musst. Lach, tanz und spring durch das Leben, deine liebe Oma schaut dir zu und kann dann auch herzlich lachen. Pass gut auf dich auf, und gib deiner lieben Mama einen dicken Kuss von mir. Deine Oma.“

„Aber Mama, warum weinst du? Der Oma geht es doch gut und sie hat gesagt, ich soll fröhlich sein. Und du auch.“

Als er abends schlief, holte mein Mann eine Lupe aus dem Schreibtisch und studierte den Poststempel. Am nächsten Tag gingen wir zur entsprechenden örtlichen Zeitung, erzählten diese Geschichte. Der Redakteur schrieb einen Artikel, setzte ihn in die Zeitung mit der Überschrift:
„Vorweihnachts-Engel gesucht.“ 

Zuerst meldete sich niemand. Dann, eine Woche später, bekamen wir einen Anruf. Die Haushilfe einer alten Dame hatte deren auffälliges, gelbe Briefpapier wieder erkannt, wovon ein Bild in der Zeitung gewesen war. „Ich denke, ich weiß, wer den Brief geschrieben hat.“

Mit meinem Mann machte ich mich am nächsten Sonntag auf den Besuchsweg. Als wir bei der alten Dame schellten und sie die Tür öffnete, sahen wir auf dem Dielenschrank ein Stück des Drachens liegen. 
„Haben Sie sich in der Tür geirrt, ich kenne Sie nicht?“, fragte sie uns. Mein Mann und ich konnten nicht anders, als in dieses freundliche Gesicht zu lächeln.:
„Nein, Frau Engel, wir haben uns nicht geirrt, wir sind hier genau richtig.“

Drei Monate später zog Frau Engel in unsere leerstehende Dachgeschosswohnung. Häufig spielt und liest sie mit Charlie, dem wir sie als neue Mieterin, als Vertretungs-Oma quasi, vorgestellt haben. 

Aber oft ist es inzwischen auch Charlie, der ihr vorliest. Und inzwischen hält er sogar das Buch richtig herum. 

(Nach einer wahren Begebenheit/Autorin B.N.)

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